Beispiele: Grenzwerte unbestimmter Formen und die Regel von de l'Hospital:
Vorbemerkungen:
Die unbestimmten Formen
0/0,
¥/¥ und
0 × ¥
sind keine voneinander getrennten Konzepte, sondern lassen sich ineinander umwandeln.
So ist etwa der Ausdruck
xcos x - 1
bei x = 0
eine unbestimmte Form 0/0,
als
x
1 cos x - 1
angeschrieben jedoch eine unbestimmte Form
0 × ¥.
Um die Regel von de l'Hospital auf einen gegebenen Ausdruck anwenden zu können, wird
er so als Quotient
f(x)/g(x)
geschrieben, dass Zähler und Nenner
an der Stelle x0
(oder für
x ® ¥
oder x ® -¥)
entweder beide verschwinden oder beide unendlich werden.
Dann werden Zähler und Nenner durch ihre Ableitungen
ersetzt und, falls wieder eine unbestimmte Form herauskommt, dieser Vorgang
wiederholt. Resultiert nach endlich vielen Schritten ein Ausdruck, dessen Grenzwert
existiert und sich berechnen lässt, so stellt das eine Rechtfertigung für die
vorangegangenen Schritte dar.
Strebt der Ausdruck hingegen gegen ¥ oder
-¥ oder
strebt sein Kehrwert gegen 0,
so gilt das auch für die gegebene unbestimmte Form.
Um dieses Resultat besser zu verstehen, betrachen wir den Kehrwert des gegebenen Ausdrucks:
cos x - 1
x
=
- sin x
1
= 0,
lim
lim
x ® 0
x ® 0
was den Grund für die Nichtexistenz des Grenzwerts von
x/(cos x - 1)
für
x ® 0
hinreichend aufklärt. Es handelt sich hier nicht um eine Definitionslücke, die stetig geschlossen
werden könnte, sondern
um eine echte Singularität (Unendlichkeitsstelle).
Die Regel von de l'Hospital kann dazu benutzt werden, Näherungsformeln
aufzustellen. So impliziert das Resultat
ex
- 1
x
=
ex
1
= 1
,
lim
lim
x ® 0
x ® 0
dass
ex - 1 »
x,
d.h. dass
ex » 1
+ x
für kleine x.
(Wir kennen diese Formel bereits aus dem Kapitel Exponentialfunktion und Logarithmus
- dort trat sie im Wesentlichen als Definition der Zahl
e auf
- und haben sie bei der Berechnung der Ableitungen der
Exponentialfunktionen im Kapitel
Differenzieren 1
benutzt). Man kann sie mit Hilfe der Regel von de l'Hospital verbessern:
Wegen
ex
- 1 - xx2
=
ex
- 1
2x
=
lim
lim
x ® 0
x ® 0
=
ex
2
=
1
2
lim
x ® 0
ist
ex
»
1 + x +
1
2
x2
für kleine x.
Vergleichen Sie die Graphen der Funktionen
ex,
1 + x und
1 + x + x2/2
(z.B. mit dem Funktionsplotter) !
Im Kapitel Potenzreihen
wird die Genauigkeit derartiger Näherungsformeln noch (unbegrenzt) gesteigert.
Übungsaufgabe: Berechnen Sie den Grenzwert der unbestimmten Form
(sin x
- x)/x3
für
x ® 0
und stellen Sie aus dem Ergebnis eine
Näherungsformel für die Sinusfunktion kleiner Argumente auf, die besser ist als
das (bereits aus dem Kapitel Winkelfunktionen
bekannte) Resultat
sin x
»
x !
Die Regel von de l'Hospital erlaubt es, das Wachstum von Funktionen
an bestimmten Stellen oder "im Unendlichen" zu vergleichen. So folgt mit
f(x) = x und
g(x) = ex, dass
limx ® ¥xe-x
=
limx ® ¥e-x
= 0.
Das bedeutet: Für unbeschränkt wachsendes x wächst
ex
stärker als x.
Das ist noch keine Überraschung.
Berechnen Sie nun den Grenzwert
limx ® ¥x2e-x,
so werden Sie (nach zweimaliger Anwendung der Regel) ebenfalls das Resultat
0 finden.
Für unbeschränkt wachsendes x steigt
ex
daher stärker als x2.
Dasselbe können Sie mit beliebigen höheren Potenzen machen, jedes mal
mit demselben Befund (nach jeder Differentiation verringert sich der Grad
der Potenz), woraus sich ergibt:
Für unbeschränkt wachsendes x wächst
ex
stärker als jede Potenz
xn.
Als zweite Anwendung fragen wir, wie sich
der natürliche Logaritmus für kleine positive
x verhält.
Dazu beschränken wir uns auf das Intervall
x > 0 und
betrachten den "rechtsseitigen Grenzwert"
(bezeichnet als
x ® 0+),
d.h. die Annäherung an die Stelle 0
durch Folgen positiver Zahlen.
Auch für diesen Fall ist die Regel von de l'Hospital anwendbar.
Mit
f(x) = ln x und
g(x) = 1/x,
deren Beträge für
x ® 0+
gegen ¥ streben,
f '(x) = 1/x und
g'(x) = -1/x2
ergibt sich
limx ® 0+x ln x
= limx ® 0+ (-x)
= 0.
Das bedeutet, dass der (Betrag des) Logarithmus für
x ® 0+
langsamer (schwächer) wächst
als 1/x.
Auch diese Aussage läßt sich verschärfen:
Zeigen Sie als Übungsaufgabe selbständig, dass (der Betrag von)
ln x
für
x ® 0+
langsamer wächst als
1/xe
für jedes (beliebig kleine)
e > 0 !