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Das Riemann-Integral:

Wir halten a und b fest und betrachten reelle Funktionen, die auf dem Intervall [a, b] definiert sind. Wann hat es einen Sinn, vom orientierten Flächeninhalt unter dem Graphen einer solchen Funktion zu sprechen, und wie ist dieser definiert? (Der Zusatz "orientiert" besagt lediglich, dass Flächen unterhalb der x-Achse mit negativem Vorzeichen beitragen sollen).

Riemanns Idee bestand darin, eine gegebene Funktion von unten und von oben durch Treppenfunktionen zu approximieren. Eine Treppenfunktion ist eine auf dem Intervall [a, b] definierte reelle Funktion, die an endlich vielen Stellen unstetig ist, dazwischen aber konstant. Die Werte an den Sprungstellen sind beliebig. Für jede Treppenfunktion g ist klar, was das bestimmte Integral

b  
 g(xdx 
a  

ist: Es ist einfach eine Summe über (orientierte) Rechtecksflächen.

Sei nun f eine auf dem Intervall [a, b] definierte reelle Funktion. Ist g eine Treppenfunktion mit der Eigenschaft, dass g(x) f(x) im gesamten Intervall, so heißt das bestimmte Integral von g Untersumme. Ist g eine Treppenfunktion mit der Eigenschaft, dass f(x) g(x) im gesamten Intervall, so heißt das bestimmte Integral von g Obersumme.

Diese Treppenfunktion definiert
eine Untersumme.
Diese Treppenfunktion definiert
eine Obersumme.

Nun sind wir bereit für die entscheidende

Definition: f heißt Riemann-integrierbar, wenn es genau eine Zahl C mit folgender Eigenschaft gibt:

s C S

für jede Untersumme s und jede Obersumme S. Die Zahl C wird dann das Riemann-Integral von f im Intervall [a, b] genannt und in der üblichen Weise als

b  
 f(xdx 
a  

geschrieben.

Ist f Riemann-integrierbar, so gilt
  1. f ist beschränkt, d.h. es gibt Zahlen k und K, so dass k f(x) K für alle x[a, b].
  2. s S für jede Untersumme s und jede Obersumme S.
  3. Für jedes (noch so kleine) ε > 0 gibt es eine Untersumme t und eine Obersumme T, so dass T t < ε ist. Mit anderen Worten: Unter- und Obersummen kommen einander beliebig nahe. Wie in dieser Skizze


    schematisch dargestellt, muss es möglich sein, den Inhalt der grauen Fläche durch geeignete Wahl von unteren und oberen Treppenfunktionen beliebig klein zu machen.
Es gibt zahlreiche Funktionen, die Riemann-integrierbar sind (beispielsweise alle monotonen, auch wenn sie nicht stetig sind). Es gibt aber auch Funktionen, die "zu unstetig" sind, um Riemann-integrierbar sein zu können. Beispielsweise ist die auf dem Intervall [0, 1] definierte Funktion

  {      1      wenn x  eine rationale Zahl ist
f(x)   =  
  0      wenn x eine irrationale Zahl ist

nicht Riemann-integrierbar. Jede Untersumme ist 0, und jede Obersumme ist 1. Daher gibt es viele Zahlen C, die größer-gleich jeder Untersumme und kleiner-gleich jeder Obersumme sind, im Widerspruch zur Definition.

Leichtes Spiel hingegen haben wir mit den stetigen Funktionen sie sind alle Riemann-integrierbar. Ist f stetig, so existiert, wie früher in diesem Kapitel gezeigt, eine Stammfunktion F, und das Riemann-Integral reduziert sich auf die Differenz F(b) F(a). Dennoch ist die allgemeine Definition des Integrals auch für stetige Funktionen nicht bedeutungslos: Sie gibt uns zahlreiche Möglichkeiten an die Hand, ein bestimmtes Integral als Grenzwert einer Folge von Summen aufzufassen. Dazu muss nur eine geeignete Folge von Treppenfunktionen definiert werden. So kann beispielsweise das Intervall [a, b] durch die Stellen

x0 a, x1, x2, ..., xn1, xn b

in n gleich große Teile zerlegt werden, die als Sprungstellen einer Treppenfunktion gn dienen. Der Wert von gn im Teilintervall zwischen xj1 und xj kann als f(xj) gewählt werden, wie diese Skizze für n = 6 veranschaulicht:


Als Wert von gn innerhalb eines Teilintervalls wird immer der Funktionswert von f am rechten Rand gewählt. Das unbestimmte Integral von gn ist dann gleich

  n  
x Σ  f(xj) ,
  j = 1  

wobei x = (b a)/n die Länge eines Teilintervalls ist. Eine soche Summe heißt Riemann-Summe. Für stetiges f lässt sich zeigen, dass gn zwischen einer unteren und einer oberen Treppenfunktion, deren Integrale einander für große n beliebig nahe kommen, eingezwickt werden kann. Daher ist der Grenzwert

    n  
lim     b  a
n
Σ  f(xj)
n       j = 1  

gleich dem Integral von f im Intervall [a, b]. Letzteres kann also durch eine Folge von Riemann-Summen beliebig genau approximiert werden.

Anstelle der obigen Definition von gn hätte man auch den Funktionswert von f am linken Rand oder in der Mitte (oder an einer beliebigen Zwischenstelle) jedes Teilintervalls wählen können. Das führt auf zahlreiche Riemann-Summen, die im Limes n alle gegen dasselbe Integral konvergieren.

Riemann-Summen haben zahlreiche Anwendungen. So kann man sie zur numerischen Approximation von Integralen verwenden. Kochrezept: Man berechne

  n  
 b  a
n
Σ  f(xj)
  j = 1  

für genügend großes n eine bemerkenswert einfache Formel! Mehr darüber im Kapitel Numerische Verfahren 2 (in Vorbereitung).

Riemann-Summen sind auch nützlich, um intuitive Argumentationen mit "infinitesimalen" Größen (wie etwa die Interpretation des Flächeninhalts unter dem Graphen als Summe unendlich vieler unendlich dünner Rechtecke) durch exakte zu ersetzen. Wie wir bereits im Fall des Ableitungsbegriffs gesehen haben (siehe das Kapitel Differenzieren 1) tritt an die Stelle solcher Vorstellungen ein Grenzwert.

Mit Hilfe dieses Online-Werkzeugs des MathServ Project


können Sie Riemann-Summen von Funktionen Ihrer Wahl berechnen (und dabei n sowie die Konvention zur Definition der n-ten Summe, d.h. die Festlegung des Werts von gn innerhalb eines Teilintervalls wählen: als Funktionswert von f am linken Rand, in der Mitte oder am rechten Rand).