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Grundsätzliche Bemerkungen zur Definition der Ableitung:
 
Differenzenquotient:

f(x0 + ε) f(x0)
ε  
(1)

Ableitung:
       f(x0 + ε) f(x0)
ε
  .
f '(x0)   =   lim
  ε  0
(2)

Wir nehmen an, dass die Funktion f entweder für alle reellen Zahlen oder zumindest in einem Intervall  x0  a < x < x0 + a, d.h. in einer Nachbarschaft (Umgebung) von x0, definiert ist. Damit ist sichergestellt, dass für genügend kleine ε (genauer: wenn a < ε < a ist) der Funktionswert f(x0 + ε) existiert. Wie im nebenstehenden Diagramm illustriert, ist dann auch der Punkt Q mit Koordinaten (x0 + ε, f(x0 + ε)) wohldefiniert. Daher ist für jedes ε  0, dessen Betrag kleiner als a ist, der Differenzenquotient (1) wohldefiniert.

Wir wollen nun versuchen, die Natur des Grenzübergangs ε  0 besser zu verstehen. Dazu beobachten wir Folgendes: Für festgehaltenes x0 ist der Differenzenquotient (1) eine Funktion von ε, die allerdings an der Stelle ε = 0 nicht definiert ist. Um Formel (2) eine möglichst allgemeingültige Bedeutung zu geben, ist daher zunächst zu klären, was unter dem Grenzwert  lim ε  0 F(ε)  einer Funktion F, die an der Stelle 0 nicht definiert ist, verstanden werden soll (und wann er überhaupt existiert). Sehen wir uns kurz an, wie diese Frage beantwortet werden kann:

Sei a > 0, und sei ε F(ε) eine Funktion, die für a < ε und ε < a, nicht aber an der Stelle ε = 0 definiert ist. Was ist der Grenzwert lim ε  0 F(ε) ?

Intuitiv existiert dieser Grenzwert, wenn F(ε) gegen eine Zahl K strebt, wann immer ε schrittweise gegen 0 strebt.

Die Formulierung wann immer bezieht sich darauf, dass die Art und Weise, wie sich ε schrittweise an 0 annähert, beliebig sein soll. Das bedeutet, dass wir
  • eine beliebige Folge von Zahlen

    ε1, ε2, ε3, ε4, ε5,...

    aus dem Definitionsbereich von F wählen können, für die  lim n   εn = 0  gilt,
     
  • und für jede dieser Folgen

     lim n   F(εn)  =  K

    erhalten. Mit anderen Worten: Die zugehörige Folge der Funktionswerte

    F(ε1), F(ε2), F(ε3), F(ε4), F(ε5),...

    strebt immer gegen dieselbe Zahl K.
Ist das der Fall, so schreiben wir

 lim ε  0 F(ε)  =  K

und bezeichnen K als den Grenzwert der Funktion F für ε  0. Auf diese Weise kann also der Grenzwert einer Funktion aus dem Begriff des Grenzwerts einer Zahlenfolge (der der intuitiven Idee einer "schrittweisen" Annäherung entspricht) erhalten werden.

Falls  lim n   F(εn)  von der gewählten Folge ε1, ε2, ε3, ε4, ε5,... abhängt oder (für auch nur eine solche Folge) nicht existiert, so sagen wir, dass der Grenzwert lim ε  0 F(ε) nicht existiert.

Damit ist genau festgelegt, was unter (2) eigentlich gemeint ist. Wir nennen eine Funktion f, für die der Grenzwert (2) in diesem Sinn existiert, "an der Stelle x0 differenzierbar".

Viele der Funktionen, mit denen man in der Mathematik zu tun hat, sind in ihrem gesamten Definitionsbereich differenzierbar: Polynome, rationale Funktionen, Winkelfunktionen und deren Inverse, Exponentialfunktionen, Logarithmusfunktionen.

Zur Berechnung der Ableitung:

Mit der genauen Definition, was der Grenzwert (2) mathematisch bedeutet, ist noch kein Verfahren angegeben, seine Existenz (d.h. die Differenzierbarkeit von f an der betrachteten Stelle) festzustellen und ihn (falls er existiert) konkret zu berechnen. Tatsächlich hängt der Schwierigkeitsgrad von Berechnungen dieser Art von der betrachteten Funktion ab: Nicht-differenzierbare Funktionen:

Nicht jede Funktion ist an jeder Stelle differenzierbar. Manchmal existiert der Grenzwert (2) nicht. Es ist sehr lehrreich, sich zu überlegen, warum das passieren kann. Wir greifen aus den möglichen Gründen zwei heraus: Nachbemerkung über Randeffekte:

Die Frage nach der Ableitung als dem Anstieg der Tangente führt bei manchen Funktionen auf eine etwas andere Situation: Ist eine Funktion in einem abgeschlossenen Intervall definiert, und ist x0 ein Randpunkt dieses Intervalls, so muss man die obige Definition leicht abwandeln, um etwas über Existenz (oder Nicht-Existenz) einer Tangente mit wohldefiniertem Anstieg im Punkt (x0, f(x0)) aussagen zu können: Ist beispielsweise f nur für x  x0 (oder für x0  x < x0 + a) definiert, so kann die "rechtsseitige Ableitung" von f an der Stelle x0 dadurch definiert werden, dass die Folgenglieder, die für ε in den Differenzenquotienten (1) eingesetzt werden, positiv gewählt werden müssen (d.h. "von oben kommend" gegen 0 streben). In diesem Fall liegt Q immer rechts von P. Auf diese Weise stellt sich etwa heraus, Wir werden im zweiten Differenzieren-Kapitel näher auf die Differenzierbarkeit von Funktionen eingehen.