Beispiel für eine nichtdifferenzierbare Funktion:
Nicht jeder Funktionsgraph besitzt in jedem Punkt eine Tangente.
Beispielsweise hat der Graph der Betragsfunktion
f(x) = |x|
im Ursprung einen Knick.
Was passiert, wenn wir versuchen, die Ableitung dieser Funktion an der Stelle
x0 = 0
zu berechnen? Gemäß Formel (2) wäre sie durch
gegeben. An dieser Stelle ist es entscheidend, was unter dem Grenzprozess
ε → 0
genau gemeint ist: Wenn für
ε nacheinander irgendwelche Zahlen, die
gegen 0 streben
(und selbst ≠0 sind)
eingesetzt werden, so muss die daraus entstehende Folge der Differenzenquotienten
immer gegen dieselbe Zahl K
streben, unabhängig davon,
welche Zahlen für ε man nun konkret gewählt hat
− die Zahl K würden wir dann als
f '(0)
bezeichnen. Probieren wir ein paar Möglichkeiten aus:
- Setzen wir für ε nacheinander 1, 1/2, 1/3,...,
so ist die zugehörige Folge der Differenzenquotienten
1, 1, 1,..., d.h. ihr Grenzwert ist 1.
- Setzen wir für ε nacheinander
−1, −1/2, −1/3,...,
so ist die zugehörige Folge der Differenzenquotienten
−1, −1, −1,...,
d.h. ihr Grenzwert ist −1.
- Setzen wir für ε nacheinander
1, −1/2, 1/3, −1/4...,
so ist die zugehörige Folge der Differenzenquotienten
1, −1, 1, −1...,
besitzt also überhaupt keinen Grenzwert.
Daher ist die Betragsfunktion an der Stelle 0
nicht differenzierbar. Anders ausgedrückt: Der Grenzwert
existiert nicht.
Dieses Verhalten der Differenzenquotienten ist
unmittelbar aus der Form des Graphen der Betragsfunktion
zu verstehen: Er besteht aus zwei Halbgeraden ("Ästen"), die einander im Ursprung treffen und dort einen Knick
bewirken. Der Differenzenquotient |ε|/ε ist der Anstieg der Sekante durch die Punkte
(0, 0) und
(ε, |ε|).
Letzterer befindet sich für ε > 0
am rechten, für ε < 0
am linken Ast des Graphen. Im ersten Fall ist der Anstieg der Sekante 1,
im zweiten ist er −1.
Ob sich der Differenzenquotient |ε|/ε
für ε → 0
einer Zahl annähert (und wenn, welcher), hängt davon ab,
wie ε gegen 0
strebt. Daran erkennen wir rein rechnerisch, was geometrisch betrachtet klar ist:
dass der Graph der Betragsfunktion im Punkt
(0, 0)
keine (eindeutige) Tangente besitzt.
(Wer will, kann von einer "rechtsseitigen" Tangente mit Anstieg
1 und einer "linksseitigen" Tangente
mit Anstieg
−1
sprechen. Aber auch dann bleibt die Tatsache bestehen, dass es keine
eindeutige Tangente gibt).
Damit eine Funktion an einer gegebenen Stelle als differenzierbar gilt, darf
das Verhalten des Differenzenquotienten im Grenzübergang nicht davon abhängen,
wie ε gegen 0
strebt. Nur dann können wir von der Existenz einer
(eindeutigen) Tangente an den Graphen sprechen.