Beispiel: Substitutionsmethode in uneigentlichen Integralen (Gaußsches Integral):
Wir gehen davon aus, dass
∞
∫
e−x2 dx
=
__
√ π
−∞
(31)
gilt und wollen diese Formel verallgemeinern, indem wir das Integral
∞
∫
exp(−ax2 + bx) dx
−∞
für a > 0
berechnen. Dazu ergänzen wir zuerst den Exponenten auf ein vollständiges Quadrat
(eine Methode, die wir bei der Lösung quadratischer Gleichungen im Kapitel
Gleichungen kennengelernt haben):
−ax2
+ bx = −a(x
− b/(2a))2
+ b2/(4a).
Der Integrand exp(−ax2 + bx)
ist daher, bis auf einen Vorfaktor, nichts anderes als eine "verschobene" Variante von
exp(−ax2).
Unser Integral sieht nun so aus:
∞
exp(b2/(4a))
∫
exp(−a(x
− b/(2a))2) dx.
−∞
Jetzt führen wir die Variablensubstitution
u = x
− b/(2a)
durch, deren Sinn es ist, die "Verschiebung" des Integranden zu eliminieren.
Die neue Integrationsvariable u kann als
Koordinate interpretiert werden, deren Nullpunkt so verschoben ist, dass
diese Verschiebung "von ihr aus betrachtet" nicht sichtbar ist.
Wir finden dx =
du und bemerken, dass
sich die Integrationsgrenzen
−∞ und ∞
unter einer endlichen Verschiebung nicht ändern.
(Das gilt natürlich nur für diese Grenzen).
Somit vereinfacht sich unser Integral zu
∞
exp(b2/(4a))
∫
exp(−au2) du.
−∞
Bis auf den Vorfaktor hat es schon fast die Form
(31). Wir müssen nur mehr die Konstante
a loswerden.
Dazu führen wir eine weitere Variablensubstitution
w = a1/2u
durch (wegen a > 0
können wir die Wurzel ziehen). Nun gilt
dw = a1/2 du,
daher
du = a−1/2 dw,
und wieder bleiben die Integrationsgrenzen unverändert.
(Diese Substitution können wir als Übergang zu einer "gestreckten" bzw. "gestauchten" Koordinate
w ansehen).
Wir erhalten
∞
exp(b2/(4a)) a−1/2
∫
exp(−w2) dw,
−∞
und nun ist das verbleibende Integral gleich (31),
hat also den Wert π1/2.
(Lassen Sie sich nicht dadurch beirren, dass die Integrationsvariable anders heißt und
die Exponentialfunktion in einer anderen Konvention angeschrieben ist).
Setzen wir das ein, ergibt sich mit
∞
__
∫
exp(−ax2 + bx) dx
=
exp(
b2
4a
)
√
π
a
−∞
ein schönes Endresultat. Es wird beispielsweise in der Wahrscheinlichkeitsrechnung
und in der Quantentheorie benötigt. Für
a = 1 und
b = 0 reduziert es sich auf
(31).
Nachbemerkung:
Zwei heikle Punkte in der Argumentation waren, dass sich die Integrationsgrenzen
−∞ und ∞
unter unseren beiden Substitutionen, d.h. unter einer endlichen Verschiebung und
unter einer Streckung (Stauchung) nicht ändern.
Dieser Schluss ist aber nur zulässig, wenn es sich um ein konvergentes (d.h. existierendes)
Integral handelt. Wir dürfen ihn nicht etwa auf ein divergentes (d.h. nicht-existierendes Integral)
anwenden, denn dann könnten wir damit nach Belieben jede falsche Aussage herbeizaubern, beispielsweise
so: Mit der Substitution
u = x − 1
ergibt sich
∞
∞
∫
(x − 1) dx
=
∫
u du .
−∞
−∞
Identifizieren wir
∞
∞
∫
x dx
=
∫
u du
−∞
−∞
(eine harmlose Umbenennung der Integrationsvariable), so erhalten wir
∞
∫
dx
= 0,
−∞
was natürlich blanker Unsinn ist.
Bei derartigen Variablensubstitutionen in uneigentlichen Integralen ist daher
sicherzustellen, dass das Integral, das man berechnen möchte,
tatsächlich existiert.