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Exkurs zur Zahl e:

  Inhalt:  
1. Existenz und Eindeutigkeit von e:

Die Graphen der Exponentialfunktionen der Form x ® ax sehen für a > 1 alle recht ähnlich aus. Da a0 = 1 ist, gehen sie alle durch den Punkt mit den Koordinaten (0,1). Sie unterscheiden sich nur durch die Intensität ihres Wachstumsverhaltens: Je größer a ist, umso enger schmiegen sie sich für negative x-Werte an die x-Achse, und umso schneller steigen sie für positive x an. Hier sind zwei dieser Graphen (für a = 2 in rot und a = 5 in blau) dargestellt:


Wir haben im obigen Diagramm auch den Graphen der Funktion x ® x + 1 als grüne Gerade eingezeichnet. Es ist deutlich sichtbar, dass diese Gerade mit den Graphen der beiden Exponentialfunktionen je zwei Schnittpunkte hat. Die Skizze sagt uns: Nun stellen wir uns vor, a langsam von 2 auf 5 zu erhöhen: Der Graph von ax wird im positiven x-Bereich umso schneller ansteigen, je größer a wird, und sein rechter Schnittpunkt mit der grünen Geraden wird nach links wandern. Bei irgendeinem Wert von a wird er mit dem linken Schnittpunkt, der fix bei (0,1) sitzt, zusammenfallen, und die grüne Gerade wird eine Tangente an den Graphen von ax werden. Den Wert von a, bei dem das geschieht, nennen wir e. Wir kommen zum Schluss, dass es eine Basis e gibt, für die das Diagramm so aussieht:


Da der Graph von ex für alle x ¹ 0 oberhalb der grünen Geraden liegt, gilt:

ex  ³  1 + x      für alle x Î R .
(1)

Weiters dürfen wir erwarten, dass es nur einen derartigen a-Wert gibt, denn wenn a weiter wächst, wird sich der Graph im negativen x-Bereich "absenken", und es wird wieder zwei Schnittpunkte mit der grünen Geraden geben, so wie es im ersten Diagramm für a = 5 der Fall ist. Im Bereich a < 1 braucht man nach anderen Zahlen, die (1) erfüllen, gar nicht zu suchen, denn wenn x = 1 und -x = 1/2 in (1) eingesetzt wird, so folgt: 2 £ e £ 4.

Im Applet Zur Definition der Eulerschen Zahl e ist diese Situation in dynamischer Weise veranschaulicht.

 
2. Berechnung von e:

Obwohl die bisherige Argumentation von einem strengen mathematischen Gesichtspunkt aus betrachtet ein bisschen zu schlampig ist, geben wir uns mit ihr zufrieden. Auch ein genauerer Beweis liefert dasselbe Resultat: Unter allen positiven Zahlen gibt es genau eine, genannt e, die (1) erfüllt.

Um sie zu berechnen gehen, gehen wir folgendermaßen vor: Wir wählen ein positives u und betrachten jene Basis a, für die

au  =  1 + u       

oder, nach a aufgelöst,

a  =  (1 + u)1/u     

ist. Es ist genau jene Basis, für die der Graph von ax die grüne Gerade in einem Punkt mit der (positiven) x-Koordinate u schneidet. Wenn wir nun u immer kleiner machen, wird a immer näher an e heranrücken. Darin besteht der ganze Trick!

Eine Möglichkeit, immer kleinere u betrachten, besteht darin, der Reihe nach  u = 1/n  für alle natürlichen Zahlen (n = 1, 2, 3...) zu setzen. Wird also n immer größer, so wird die Zahl

(1 + 1/n)n     

beliebig nahe an e heranrücken. Für n = 10 ergibt sich 2.5937424601, für n = 100 ergibt sich 2.7048138294... und für n = 10000, erhalten wir 2.7181459268..., was schon sehr nahe bei e (dessen Dezimalentwicklung mit 2.7182818284... beginnt) liegt. Dieses Verfahren kann dazu benutzt werden, den numerischen Wert von e beliebig genau zu berechnen. Mathematisch ausgedrückt, wird e hier als "Grenzwert" einer Folge von Zahlen dargestellt. Wir werden derartige Dinge im Kapitel über Grenzprozesse (e als Grenzwert) genauer besprechen. In vielen Lehrbüchern wird e auf diese Weise eingeführt: als Grenzwert der Zahlenfolge (1 + 1/n)n.

Neben dem hier beschriebenen gibt es andere - bessere - Verfahren, um e (und damit zusammenhängende Größen wie ex für ein gegebenes x) numerisch zu berechnen. Wir werden sie in den Kapiteln über Grenzprozesse (e als Reihe) und Potenzreihen (in Vorbereitung) besprechen.

Falls Ihnen die hier vorgeführte Argumentation nicht zusagt, sehen Sie sich die im Anhang 1 weiter unten beschriebene alternative Version, die einen weniger starken Bezug zu den obigen Graphen hat, an!

 
3. Verhalten von ex für kleine x:

Das Verhalten der Funktion x ® ax wird für kleine x (d.h. für |x<< 1) durch das Verhalten des Graphen nahe jener Stelle, wo er die y-Achse schneidet, d.h. in der Nähe des Punktes (0,1), dargestellt (siehe das zweite der obigen Diagramme). Da der Graph tangential zur grünen Gerade ist, unterscheiden sich die beiden Funktionen dort nur wenig. Daher lässt sich ex in diesem Bereich durch 1 + x annähern (approximieren):

ex » 1 + x      für   |x<< 1.

Für andere Basen ist das nicht der Fall, da der Graph von ax für a ¹ e im Punkt (0,1) nicht tangential zum Graphen von 1 + x, sondern zum Graphen einer anderen linearen Funktion 1 + cx (mit c ¹ 1) ist. Ganz allgemein gilt für kleine x die Näherungsformel ax » 1 + cx, wobei c von a abhängt und nur für a = e den Wert 1 hat. Darin liegt letzten Endes die Bedeutung der Zahl e.

 

 
Anhang 1: Alternative Form der Berechnung von e:

Die obige Argumentation zur Berechnung von e erfordert kaum eine Rechnung, enthält aber einen starken Bezug zu den Diagrammen und dem Verhalten der Graphen. Als Alternative stellen wir hier einen Beweis vor, der diesen Bezug vermeidet, dafür aber rechnerisch ein bisschen aufwendiger ist:

Wir nehmen als gegeben an, dass eine Zahl e, die (1) erfüllt, existiert und spalten diese Ungleichung in zwei Aussagen auf: für positive und für negative x. Im zweiten Fall setzen wir x = -y. Damit sagt (1) dasselbe aus wie

 ex  ³  1 + x      für alle x > 0  
e-y  ³  1 - y      für alle y > 0 .

Das können wir zu

(1 + x)1/x  £  e  £  (1 - y)-1/y

umformen. Da diese Aussage für alle positiven x und y gilt, können wir x = 1/n und y = 1/(n + 1) setzen, wobei n eine natürliche Zahl ist. Nach einer kleinen Umformung und der Verwendung der Abkürzung

an  =  (1 + 1/n)n     

gelangen wir zur Aussage

an  £  e  £  (1 + 1/n) an ,

die für alle natürlichen Zahlen n gilt. Wenn n schrittweise immer größer gemacht wird, so wird der Faktor 1 + 1/n auf der rechten Seite immer näher bei 1 liegen. Die linke und die rechte Seite werden einander immer ähnlicher, und damit haben wir e "eingezwickt": Mit wachsendem n rückt an beliebig nahe an e heran.

 
Anhang 2: Berechnung von ex:

Zuletzt erwähnen wir, dass ex der Grenzwert der Folge



1 +  x 
n


n

 

ist: Werden - bei gegebenem x - immer größere natürliche Zahlen n eingesetzt, so rückt diese Zahl beliebig nahe an ex heran. Die Berechnung von e ergibt sich als Spezialfall für x = 1.

Beweisidee: Wird im obigen Ausdruck n = xm gesetzt, so tritt der mittlerweile vertraute Term (1+ 1/m)m, erhoben zur Potenz x, auf. Für x ¹ 0 ist es gleichgültig, ob m oder n über jede Schranke wächst, da die beiden bei festgehaltenem x zueinander proportional sind, womit sich als Grenzwert ex ergibt.