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e und der Zinseszins:

Manchmal wird das Auftauchen der Zahl e im Mathematikunterricht mit der Zinseszins-Rechnung in Verbindung gebracht. Mehrere Varianten eines solchen Zusammenhangs sind in Umlauf. Wir greifen zwei davon heraus:
  1. Keine kontinuierliche Verzinsung ohne e?
  2. Eine andere Geschichte
 
      1. Keine kontinuierliche Verzinsung ohne e?

Um die mathematische Struktur der Argumentation möglichst klar zu beschreiben (und auch, um auf einen Punkt hinzuweisen, der bei oberflächlicher Behandlung leicht übersehen wird), formulieren wir sie in Form einer Debatte über Methoden der Verzinsung.

Die handelnden Personen:
Boris Anko-Matt, Banker
Carla di Conte, Bankerin
Justus Zinser, Banker
Mathilde Formel-Fischer, Mathematikerin
Lombardo da Vinci, Supervisor und Controler
  • Boris Anko-Matt: Nehmen wir an, einem Kunden wird ein jährlicher Zinssatz (Zinsfuß) von p (womit ich, genauer gesagt, p × 100% meine) versprochen. Nach einem Jahr ist seine Einlage, wenn sie ursprünglich den Wert 1 hatte, auf 1+ p angewachsen. Nach t Jahren steht sie bei

    (1+ p)t,

    wobei wir für t natürliche Zahlen (1, 2, 3,...) einsetzen dürfen. Welcher Betrag soll aber ausbezahlt werden, wenn das Geld bereits nach einem halben Jahr abgehoben wird? Wir haben dem Kunden versprochen, dass bei jeder Verzinsung die früher angefallenen Zinsen dem Kapital zugeschlagen und daher in der Zukunft selbst verzinst werden.
     
  • Carla di Conte: Ich schlage vor, das Kapital jedes halbe Jahr zu verzinsen, und zwar mit der Hälfte des jährlichen Zinssatzes. Das bedeutet, dass die Einlage nach einem halben Jahr den Wert 1+ p/2 haben wird. Nach einem weiteren halben Jahr ist sie um denselben Faktor gewachsen, beträgt also dann (1+ p/2)2.
     
  • Boris: Und nach einem Vierteljahr?
     
  • Justus Zinser: Gute Frage! Ich schlage vor, Carlas Methode zu verfeinern: Wir verzinsen das Kapitel jedes Vierteljahr, und zwar mit einem Viertel des jährlichen Zinssatzes. Nach einem Vierteljahr beträgt der Kontostand 1+ p/4. Dann können wir den Wert der Einlage mit Hilfe der Formel

    (1+ p/4)4t

    bestimmen, wobei t, die Zahl der Jahre, nun in Viertelschritten (also t = 1/4, 1/2, 3/4, 1, 5/4,...) angegeben werden darf.
     
  • Boris: Ich bin noch nicht zufrieden. Welchen Wert hat das Kapitel nach 1/8 Jahr oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt dazwischen?
     
  • Justus: Okay, dann verallgemeinere ich die Methode: Wir könnten das Jahr in n gleich lange Zeitabschnitte zerlegen und nach jedem dieser Abschnitte das Kapitel verzinsen, und zwar mit einem n-tel des jährlichen Zinssatzes. Das würde erlauben, den Wert der Einlage mit Hilfe der Formel

    (1+ p/n)nt

    zu bestimmen, wobei t, die Zahl der Jahre, nun in Schritten von 1/n angegeben werden darf. Wenn wir n groß genug wählen (z.B. 8 oder 16 oder gar 365), sollten wir den Wert des Kapitals praktisch zu jedem Zeitpunkt ermitteln können.
     
  • Mathilde Formel-Fischer: Dass unsere Verzinsungs-Formel von einer willkürlichen Zerlegung des Jahres in n Teile abhängen soll, behagt mir nicht. Als Mathematikerin bevorzuge ich elegantere Lösungen. Nehmen wir doch einfach an, dass die Verzinsung kontinuierlich von statten gehen soll, d.h. jede Stunde, Minute, ja innerhalb jedes beliebig kleinen Zeitintervalls, und zwar so, dass sich der Wert der Einlage in gleichen Zeiten um den gleichen Faktor vergrößert. Dann müssten wir das Jahr in unendlich viele unendlich kleine Zeitabschnitte zerlegen, d.h. wir müssten n unendlich groß werden lassen. Nun bin ich mir dessen bewusst, dass in der Formel (1+ p/n)nt nicht einfach "n gleich Unendlich" gesetzt werden kann. Wir können aber n immer größer werden lassen. Für festgehaltenes p und t wird sich der Ausdruck (1+ p/n)nt beliebig nahe der Zahl

    e pt

    annähern, wobei e eine (irrationale) Zahl ist, die mein Kollege Leonhard Euler vor fast dreihundert Jahren in die Mathematik eingeführt hat, und deren Wert ungefähr 2.718 beträgt.
    Ich kann das auch beweisen: Wenn ich n = pm in unsere Formel einsetze, so wird sie zu (1+ 1/m)mpt, was sich auch als ((1+ 1/m)m) pt schreiben lässt. Nun ist es (solange p > 0 ist), egal, ob ich n oder m über jede Schranke wachsen lasse, denn die beiden Zahlen sind ja bei festgehaltenem p zueinander proportional. In jedem Fall kommt (1+ 1/m)m der Zahl e beliebig nahe. (Das kann als Definition von oder als Berechnungsmethode für e, die wir in mathe online nachlesen können, angesehen werden). Der gesuchte Ausdruck für den Wert des Kapitals zur Zeit t ist dann, wie behauptet, durch e pt gegeben.
    Für t (die Zeit in Jahren) dürfen wir nun beliebige reelle Zahlen einsetzen. Damit hätten wir die Idee der kontinuierlichen Verzinsung als exponentiellen Prozess realisiert.


Üblicherweise soll diese oder eine ähnliche Argumentation aufzeigen, dass die Zahl e auf zwanglose Weise aus der Idee der kontinuerlichen Verzinsung entsteht. Hören wir uns die Geschichte aber bis zum Ende an:
 
  • Lombardo da Vinci: Liebe KollegInnen, ihr habt zwar eine wunderschöne mathematische Konstruktion entwickelt, aber leider hat sie für eure Zwecke einen Schönheitsfehler, den ihr übersehen habt: Welchen Betrag bekommt der Kunde ausbezahlt, wenn er sein Geld nach einem Jahr abhebt? Wenn ihr in eure Formel t = 1 einsetzt, so erhaltet ihr e p, was nicht dasselbe wie 1+ p ist. Die Konstante p in eurer Formel entspricht nicht dem jährlichen Zinssatz, d.h. eure Formel beschreibt zwar eine kontinuierliche Verzinsung, aber nicht zu dem Zinssatz, von dem ihr ausgegangen seid!
     
  • Mathilde: Oh, das stimmt! Nun, wir können aber dennoch an der Idee der kontinuierlichen Verzinsung festhalten und die von Boris ganz zu Beginn erwähnte Formel

    (1+ p)t

    verwenden, wobei für t (die Zeit in Jahren) jede reelle Zahl eingesetzt werden darf. Nach einem Jahr (t = 1) beträgt der Wert der Einlage 1+ p, wie es sein soll. Die Zahl e ist dabei gar nicht notwendig! Ich kann euch aber beruhigen: wer statt dessen die Formel e pt benutzt, macht keinen großen Fehler, denn wenn p viel kleiner als 1 ist, gilt

    e p  »  1 +  p.

    Falls etwa der Zinssatz 3% beträgt (d.h. p = 0.03) und wir den Wert des Geldes nach fünfeinhalb Jahren berechnen (d.h. t = 5.5), so ist der Fehler nicht einmal ein viertel Prozent. Für p = 0.03 und Berechnungen innerhalb des ersten Jahres (t £ 1) ist der Fehler nie größer als ein halbes Promille.


Die Geschichte mit e und der kontinuierlichen Verzinsung hat also einen "näherungsweise wahren" Kern. Sie lässt aber gänzlich offen, wieso ausgerechnet diese Zahl eine "natürliche" Basis sein soll, wo doch die Exponentialfunktion mit Basis 1+ p die exakte Lösung des Problems darstellt und e nur im Zusammenhang mit einer Näherung auftritt.

Nachbemerkungen: Wenn an der "Formel mit e" festgehalten und der jährliche Zinssatz der kontinuierlichen Verzinsung als p bezeichnet werden soll, muss die Konstante p durch ln(1+ p) ersetzt werden, wobei ln der später in diesem Kapitel zu besprechende "natürliche Logarithmus" ist. Das rührt von der Identität

(1+ p)t  =  e t ln(1+ p)

her, die unmittelbar aus der späteren Formel (28) folgt. Sie zeigt, dass sich die Zahl e über den Logarithmus im Exponenten wieder "weghebt", d.h. dass sie nur "scheinbar" in die Formel für die kontinuierliche Verzinsung geraten ist, während die linke Seite vom Standpunkt der Formeln für das Wachstum von Bakterienkulturen und dergleichen die einleuchtendere Variante ist.

Verwirrenderweise wird in manchen Lehrbüchern die Formel e pt präsentiert, p (genauer: p × 100%) aber nach wie vor als "jährlicher Zinssatz" bezeichnet. Es sollte dabei auf jeden Fall bedacht werden, dass es sich dabei um eine fiktive, nicht um die dem Kunden versprochene Form der Verzinsung handelt.

 
      2. Eine andere Geschichte

Da die Zahl e - wie wir gerade gesehen haben - im Rahmen der kontinuierlichen Verzinsung gar nicht so zwangsläufig auftritt, wie manchmal angenommen wird, wird sie manchmal in eine andere Variante der Geschichte gekleidet, die das Missverständnis, die Bank würde zur Berechnung der Zinsen die "Formel mit e" verwenden, gar nicht aufkommen lässt. In ihr versucht ein Anleger, durch bloßes Abheben und Einlegen möglichst viel Profit herauszuschlagen.

Es wird angenommen, dass eine Bank innerhalb eines Jahren die einfache (anteilige) Verzinsung zwischen dem Einlege- und dem Abhebungsdatum anbietet. Der Einfachheit halber sei der Zinssatz 100%, d.h jede Einlage verdoppelt sich innerhalb eines Jahres. Wird eine Einlage etwa nach einem Vierteljahr abgehoben, so wird sie mit 25% verzinst. Wenn jemand sein Geld (das ursprünglich den Wert 1 hatte) nach einem halben Jahr abhebt, erhält er 1+ 1/2 ausbezahlt. Er legt es sofort wieder ein, um nach einem weiteren halben Jahr (1+ 1/2)2, also 2.25 zu kassieren, was größer ist als 2. Wird das Geld jedes Vierteljahr abgehoben und sogleich wieder eingelegt, so ergibt sich am Jahresende ein Kapital von (1+ 1/4)4, und ganz allgemein ist bei einer Zerlegung des Jahres in n Abschnitte, nach denen jeweils abgehoben und wieder eingelegt wird, der ausbezahlte Endbetrag (1+ 1/n)n. Hier haben wir wieder unseren geheimnisvollen Term! Da er mit zunehmendem n wächst, ist die Strategie umso besser, je größer n ist. Allerdings kann der Wert des Kapitels nie e (also 2.71828...) übersteigen.
Die Zahl e tritt hier als prinzipielle Schranke der Ausnutzbarkeit des Systems der einfachen Verzinsung auf. Ist der jährliche Zinssatz p × 100%, so ist der Grenzbetrag für die kontinuierliche Bank-Überlistungsstrategie durch e p gegeben. Mathematisch ist diese Strategie mit der in der ersten Variante diskutierten Verfahrensweise der Banker (vor Lombardos Einwand) identisch. Wie die erste, so lässt auch die zweite Variante offen, wieso ausgerechnet e eine "natürliche" Basis sein soll.